Was für ein beschissenes Kinojahr sollte man eigentlich meinen. Schließlich stand 2020 ganz im Zeichen der Coronakrise und daran hatten natürlich auch die Filmindustrie und so ziemlicher jeder Fan des bewegten Bildes schwer zu knabbern. Zahlreiche Blockbuster, auf die man sich schon teilweise seit Jahren gefreut hat, wurden verschoben, andere wurden direkt beim Streamingdienst deines Vertrauens geparkt.
Und die Kinos? Mussten erst knapp zwei Monate geschlossen bleiben, nur um dann auf die großen Titel zu warten, die da bis auf „Tenet“ nie eintrafen. Stattdessen: „Neue“ Titel aus den Monaten Prä-Lockdown und Aufgewärmtes und jetzt grad sind die Pforten wieder dicht. Ein einziges Trauerspiel.
Und trotzdem war nicht alles Mist in diesem Jahr. Denn unter den Filmen, die man 2020 auf der großen Leinwand, ob regulär oder im Festivalkontext, bewundern durfte, fanden sich doch tatsächlich jede Menge tolle Perlen, die wohl weitaus weniger Zuschauer fanden, als sie verdient gehabt hätten. Deswegen ist es dieses Mal umso wichtiger, auf sie alle hinzuweisen, um die frohe Kunde zu verbreiten: Auch in den vergangenen 365 Tagen war Kino sehr, sehr geil.
Hier sind die besten Filme 2020 in loser Reihenfolge und ohne viel Tamtam.
Reguläre Kinostarts in Deutschland
Knives Out
Was für ein irres Ensemble und was für ein noch verrückterer Spaß, den man bei dieser Krimi-Komödie doch haben kann. Ein frühes Highlight Anfang Januar, das sich bis zum Ende tief ins Hirn gebrannt hat. Übrigens auch eingebettet in einem tollen Abend mit ehemaligen Kollegen, der dann noch lange im Irish Pub weiterging. Good ol‘ days.
1917
Formschönes Kriegsepos in ewig langen (Pseudo-)Takes, das dadurch eigentlich weniger mit Kriegsgräueln schockiert, sondern eine handwerkliche Eleganz entfaltet, die man in dem Genre auch nicht alle Tage zu Gesicht bekommt. Der Höhepunkt am Ende ist einer der grandiosesten Kinomomente des Jahres und der Soundtrack von Thomas Newman ist auch (aber gerade deswegen) mindestens einen genaueren Hinhörer wert.
Little Women
Greta Gerwig ist schon toll, als Schauspielerin und als Regisseurin. „Little Women“ ist auch toll, mit einem prächtig aufgelegtem Ensemble, das durch eine rührende und gekonnt inszenierte Geschichte führt.
Ein verborgenes Leben
Terrence Malick ist zurück und so stark wie schon lange nicht mehr. Gewohnt gibt sich sein neuestes Werk langsam, bedächtig, philosophisch und wunderschön anzuschauen. Doch anders als die Jahre davor verwirrt er den unbedarften Kinogänger nicht mehr mit scheinbar völlig von der Narration losgelösten Impressionen, sondern erzählt tatsächlich…eine Geschichte. Der man sogar folgen kann. Trotzdem fehlen Malicks gewohnte, von vielen geliebte wie gehasste Manierismen nicht. Ich für meinen Fall liebe sie.
Sorry We Missed You
Schon zuvor wurde auf die mitunter sehr prekären Arbeitsbedingungen bei Paketlieferdiensten und ihren Fahrern aufmerksam gemacht und mit „Sorry We Missed You“ lieferte der Brite Ken Loach dann noch den passenden Film ab. Mit viel Mitgefühl für die arbeitende Bevölkerung und einem präzisen wie wütenden Blick auf die Umstände sensibilisiert sein Werk endgültig für das Thema und zwingt einen, das eigene Konsumverhalten zu reflektieren. Leider kam Corona dazwischen – und aktuell kommt man wegen des geschlossenes Einzelhandels wieder nicht drum herum, Pakete zu bestellen.
Queen & Slim
Eine moderne Bonnie-und-Clyde-Story, mächtig unterfüttert mit dem Zeitgeist entsprechendem, politischem Unterton und befeuert von starken Darbietungen. Ich hatte den Film wochenlang vor mir hergeschoben und fragte mich nach der Sichtung nur: Warum eigentlich? Ich weiß es nicht mehr.
The Gentlemen
Guy Ritchie macht endlich wieder das, was er meines Erachtens am besten kann: Dubiose, höchst unkorrekte Typen unterhaltsamst in Szene setzen in einer schelmisch-vertrackten Erzählung. Man fühlt sich an bessere Tage erinnert, durchaus, aber das Gefühl von Vertrautheit und einer Rückkehr zu besserer Form wirkt.
For Sama
Unerträglich. Herzzereißend. Schockierend. Aber auch: Rührend. Mutig. Wichtig. Eine äußerst intensive und oft grausame Doku, die Zartbesaitete meilenweit umgehen sollten, während sich alle anderen unbedingt vor Augen führen müssen, dass dies letztendlich nur eine Sichtweise auf einen höchst komplexen Konflikt ist. Universell wahr bleiben jedoch das Grauen des Krieges und die unendliche Tapferkeit derer, die ihm trotzen.
Waves
Ein Indie-Drama über Schuld, Sühne, familiären Zusammenhalt und neue Hoffnung nach dem Trauma. Mit Verve und Schmackes gefilmt, preisverdächtig gespielt. Eine Wucht.
The Climb
Ewig lange Takes, die Zweite: „The Climb“ erzählt von einer toxischen Freundschaft und bedingungsloser Loyalität, wobei alle mit Plansequenzfetisch mehrfach zum Höhepunkt geführt werden.
Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden
Selten wurde ich von einem Trailer so sehr in die Irre geführt. Ich ging ins Kino in der Erwartung einer halbwegs seichten Arthaus-Komödie und bekam dann einen der morbidesten, schwarzhumorigsten und verstörendsten Filme des Jahres vorgesetzt, der ganz sicher ins Fantasy Filmfest viel besser hingepasst hätte als im Programmkino in der Nachbarschaft. Danach sieht man Hundeliebhaber mit ganz anderen Augen …
Corpus Christi
Im Double-Feature mit dem „Zugreisenden“ – und was für ein Kontrastprogramm. Kühl und authentisch inszeniertes Drama über einen falschen Priester, der aber einen solch guten Job macht, dass er sich von sich selbst überzeugt. Lädt ein zu spannenden Reflexionen zu verschiedensten Themen, wie Glaube, Religion, Recht und Unrecht, Sinn und Unsinn und Bestimmung ein.
The Outpost
Alle Welt redet von „Tenet“ als DAS große Leinwandspektakel des Jahres – und kaum einer hat „The Outpost“ gesehen. Das Erzähltempo mutet anfangs noch sehr trocken an, die Figuren sind… nun ja. Amerikanische Soldaten. Zu Beginn aber etabliert der Film erfolgreich ein Gefühl der Unsicherheit und des tödlichen Zufalls, um dann in einem ausufernden Scharmützel zu gipfeln, das in punkto Intensität und realistischer Inszenierung das ziemlich sicher packendste und niederschmetterndste Stück Kriegsfilm seit „Der Soldat James Ryan“ und damit auch zugleich der Actionfilm des Jahres ist. Gesehen im Kino, mit sattem Sound. Der Anti-„1917“ und am Ende audiovisuell überwältigender als Nolans Blockbuster. US-Militärhuldigung und ein ab und an sichtbar geringes Budget ändern daran auch nix, dafür gibt Caleb Landry Jones Vollgas.
Bill & Ted Face The Music
Das wohl unbeschwert eskapistischste Filmerlebnis des Jahres und gerade in Coronazeiten einfach Balsam für die Seele. Atmet den Spirit der Vorgänger und guckt sich wie eine Mischung aus beiden, ohne allzu repetitiv zu wirken. Stattdessen jede Menge Einfälle und ein naiver, stets jugendfreier Humor, der nie gemein sein oder unter die Gürtellinie gehen muss und trotzdem zum herzlichen Lachen animiert. Gute, positive Vibes und viel Optimismus. Was haben wir alle diesen Film gebraucht, der aber hierzulande nur an einem einzigen Tag lief. Was für eine Schande. Einer der schönsten Kinobesuche 2020, da der kleine Saal verhältnismäßig gut besucht war und alle hörbar viel Spaß hatten, ohne sich gegenseitig auf die Nerven zu gehen. So magisch kann Kino sein – und „Bill & Ted“ haben es mal wieder mir und allen Anwesenden gezeigt!
Vergiftete Wahrheit
Spannender und exzellent besetzter wie gespielter Justizthriller über einen echten und noch nicht zur Gänze beigelegten Skandal. Die Sorte Film, bei der man den Saal mit einer neuen Portion Skepsis verlässt, die man auch so schnell nicht abschütteln kann.
Festivalperlen
FREM (Berlinale)
Ein ganz und gar experimenteller wie einzigartiger Film, dessen Machart kaum zu beschreiben ist und sich in einem abstrakten Minimalismus ergeht und allerlei Denkanstöße zu Mensch und Umwelt, Künstliche Intelligenz und Medien gibt – und noch mehr, wenn man denn nur will. Eine eigenartige, stimulierende, auch recht anstrengende Erfahrung.
Voices in the Wind (Berlinale)
Ein langsam und äußerst behutsam erzähltes Werk über die Aufarbeitung eines großen Verlustes, aus der Sicht einer jugendlichen Protagonistin, die den Zuschauer auf einen Roadtrip nimmt, bei dem sie verschiedenen Figuren mit eigenen Schicksalen begegnet. Unterhalb der ruhigen Oberfläche lodert ein großer, emotionaler Kern, der sich am Ende wohlverdient Bahn bricht. Kaum ein Film hat mich 2020 mehr überrascht und gerührt als diese kleine Entdeckung aus Japan, die so mit einiger Wahrscheinlichkeit nie ihren Weg in unsere Gefilde finden wird.
The Assistant (Berlinale)
Der Film zu #metoo und Machtmissbrauch am Arbeitsplatz. Glücklicherweise aber kein lautes, penetrantes filmisches Pamphlet, sondern besonders kraftvoll eben weil Regisseurin Kitty Green viel lieber auf Indizien denn auf große Urteile setzt. Wie vermutlich auch im wahren Leben wird auch in „The Assistant“ versucht, unlautere Dinge geheim zu halten, die Wahrheit ergibt sich aus dem eigenen Zusammenfügen der Puzzleteile. Hierzulande regulär auf DVD und Blu-ray erschienen.
The Viewing Booth (Berlinale)
Hochinteressanter Dokumentarfilm über Medienwahrnehmung und -kompetenz und die Suche nach der Wahrheit in einem Meer aus Fakes im Internet und wie persönliche Erfahrungen und Vorurteile darüber entscheiden, wie wir vermeintlich echte Aufnahmen beurteilen.
First Cow (Berlinale)
Macht „Bill & Ted“ harte Konkurrenz als schönste Kino-Bromance des Jahres. Wunderbar lakonischer Humor über die gesamte Spielzeit, voll kleiner wie großer Absurditäten und einem Hauch Poesie in der Luft. Und auch die Kuh ist für ihr komödiantisches Talent nicht zu verachten.
Saudi Runaway (Berlinale)
Spannende Doku über die stark traditionellen, patriachalischen Verhältnisse in Saudi Arabien und dem äußerst gewagten Ausbruch aus einer Zwangsheirat. Die Protagonistin war übrigens beim Screening zugegen und erntete stehende Ovationen.
Last and First Men (Berlinale)
Der erste und letzte Spielfilm des verstorbenen isländischen, oscarnominierten Filmkomponisten Jóhann Jóhannsson. Ein surrealer, experimenteller Film, der einer Kunstinstallation gleicht und dessen Bilder alter Bauwerke und Skulpturen im Kontext der ausdrucksstarken Kameraarbeit, des unheimlich schönen Scores und des Voice-Overs von Tilda Swinton wie von einem ganz anderen Planeten wirken. Sci-Fi pur dank der in ein neues Licht gerückten Vergangenheit. Faszinierend.
Curveball (Berlinale)
Skurril, Skurriler, „Curveball“. Herrlich schrulliges, satirisches Politkino über eine haarsträubende, wahre Begebenheit. Furztrockener Humor zu dringlichen Themen – eine gute Zeit und eine willkommene, humoristische Abwechslung beim Festival.
DAU. Natasha (Berlinale)
Es sind reihenweise Leute aus dem Saal gegangen, mitunter auch unter lauten Beschwerden. Schwierig, aber kalt lässt das hier garantiert niemanden. Ein heftiger Tritt in die Magengrube und eine zutiefst abscheuliche Abhandlung darüber, wie in einer Hierarchie auch der ungenierte Missbrauch von Macht sich quer durch alle Ebenen zieht – und es dadurch auch immer ein noch viel größeres Arschloch gibt, als man zunächst denkt. Skandalträchtiger Teil aus einem noch viel skandalträchtigeren Projekt – und eigentlich auch blanker Horror. Brrr.
Jumbo (Berlinale)
Eine Frau verliebt sich in und hat Sex mit einem Fahrgeschäft in einem Freizeitpark. Die Liebesgeschichte des Jahres. Irgendwie.
Kajillionaire (Filmfest Hamburg)
Indie+Komödie+schräge Figuren = ein Film, den ich liebe! Fairerweise muss ich wohl erwähnen, dass ich aber auch grundsätzlich ein Herz für solche kleinen, weirden Juwelen habe, in denen die Marotten der Protagonisten gleichermaßen zum schießen sind und doch ein dramatisches, ultimativ herzerwärmendes Potenzial bergen. Evan Rachel Wood spielt famos auf, Filmemacherin Miranda July tut es ihr gleich. Ich musste bei der Sichtung so dringend aufs Klo, aber ich wollte nicht eine Sekunde verpassen! Ist noch mal gut gegangen. Hatte dann später auch einen regulären Kinostart.
Der Rausch (Filmfest Hamburg)
Mads Mikkelsen und seine Freunde bei einem persönlichen Experiment im Dauersuff zuzusehen, ist zunächst ein ganz großer „Hangover“-artiger Spaß, der aber auch gleich zu Beginn klarmacht, dass der Kater danach einen ganz anderen Ton anschlagen wird, als man es vermuten würde. Wie bei einem echten Saufgelage mit Kumpels möchte man auch beim Schauen von „Der Rausch“ die sich anbahnenden Probleme am liebsten zugunsten des alkoholgetränkten Spaßes verdrängen. Doch das Erwachen folgt sogleich und sorgt für einen tiefen Blick in den Spiegel. Starkes Ensemble trifft auf präzise Erörterungen von Suchtentstehung und ihren Folgen. Am Ende bleibt nur die Wahl: Die harsche Realität akzeptieren oder weitertrinken?
Sound of Metal (Filmfest Hamburg)
Riz Ahmed spielt in einer der besten Darbietungen des Jahres einen Drummer, der sein Gehör verliert. Einfühlsam erzählt und mit einem sehr authentischen Blick auf die Gehörlosengemeinde in den USA. Starke Nebendarsteller (Olivia Cooke! Paul Raci!) und ein famoses Sound-Design runden dieses starke Drama ab. Aktuell bei Amazon Prime Video zu sehen.
Nomadland (Filmfest Hamburg)
Unbestritten einer der ganz, ganz großen und schönsten, einfühlsamsten Würfe, die es 2020 in irgendeiner Form auf die große Leinwand geschafft haben, ohne dabei jemals melodramatisch zu werden. Regisseurin Chloé Zhao hat schon mit „The Rider“ begeistert und legt hier konsequent noch einen drauf und hat in Frances McDormand die perfekte Hauptdarstellerin dabei, die sich mal eben für eine weitere Oscarnominierung empfiehlt – mindestens. Erzählt wird von einer Frau, die alles verliert und fortan in ihrem Van durchs Land reist und dabei eine eingeschworene Gemeinde an Gleichgesinnten trifft. Es sind kleine zwischenmenschliche Momente voller Aufrichtigkeit, die ganz groß wirken, dazu fängt die Kamera poetisch schöne Bilder inmitten des prekären Alltags ein.
Ehrenwerte Streaming-Nennungen
7500 (Amazon Prime)
Schnörkelloser, kompakter Thrill im Flugzeugcockpit mit Joseph Gordon-Levitt. Spielt sein Konzept einmal fix und unkompliziert durch, nicht mehr und nicht weniger und damit perfekt kurzweilig.
Soul (Disney+)
Pixars zweiter Wurf 2020 (neben „Onward“) ist ein visuell einfallsreiches Werk, bei dem der Spagat zwischen Emotionen und Humor so gut wie schon lange nicht mehr gelingt. Perfekte Animationen treffen auf eine bewegende Geschichte über Sinn und Unsinn des Lebens und dem Funken, der uns alle antreibt.